Retzlaff, Rüdiger. (2008). Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen.

 

Stuttgart: Klett-Cotta.

Eines meiner Lieblingsbücher, wochenlange Nachttisch-Lektüre, ist „Eine kurze Geschichte von fast allem“ von Bill Bryson. Der Autor, einigen bekannt als Reiseschriftsteller, erinnert an den langweiligen Naturkundeunterricht seiner Kindheit und versucht, solchermaßen motiviert, nichts Geringeres als die Welt, das Universum, die Entwicklung der Arten auf knapp 700 Seiten zu erklären.

Das Einschlafen fiel mir nach der Lektüre nicht leicht, in den anschließenden Träumen erlebte ich mich häufig als wieder jungen Menschen, der Naturwissenschaften nicht als langweiligen Schulkram erlebt und in faustischem Drang in die Welt hinausgeht. Ich war dem Buch dankbar, dass es mir – auch im höheren

Alter – „Spiel-Räume“ eröffnete, die ich aufgrund der humorvollen und anschaulichen Darstellung als lustvoll erlebte.

Nun ist ein Buch erschienen, welches dem Kinder- und Jugendlichentherapeuten in seinem manchmal sicherlich auch beschwerlichen Alltag eine ähnliche Freude vermitteln könnte, „Spiel-Räume. Ein Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen“ von Rüdiger Retzlaff. Schlägt man das Inhaltsverzeichnis auf, wird sofort die Assoziation zu dem oben erwähnten Buch deutlich: es ist im besten Sinne auf 426 Seiten die kurze Geschichte von fast allem. Kurz und kurzweilig deshalb, weil der Autor nicht dies „Alles“ in einem „Neckermann-Katalog“ dessen vorstellt, was heutzutage gut und teuer ist, sondern weil er auf dem Boden einer nachvollziehbaren theoretischen Fundierung und mit einem ausgeprägten Methodenbewusstsein Möglichkeitsräume eröffnet, die auch deshalb für den Leser „Spiel“-Räume werden, weil sie spannend, humorvoll und lebensnah dargestellt – neugierig und experimentierfreudig machen.

Der Aufbau des Buches trägt dazu bei, dass man nach einer umfassenden theoretischen Einstimmung und Reflexionen über die Rahmenbedingungen einen systemischen Therapieprozess in seiner Komplexität und Einzigartigkeit nach voll ziehen kann. Von „Das Erstgespräch“ (Kap.3) bis Kap. 22 („Ende gut, alles gut“) werden Hinweise gegeben, die Besonderheiten und Querverbindungen (z.B. „Kooperation und Netzwerke,“ „Systemisches Eltern coaching“) thematisieren und deutlich machen, dass der vorgestellte systemische Ansatz über den Tellerrand hinausweist. Die Darstellung spezifischer Interventionen gefällt durch eine nachvollziehbare Struktur, ich kenne kein Lehrbuch, das eine gleichermaßen über zeugende Vielfalt an Vorschlägen präsentiert. So überrascht auch nicht mehr, wenn ab Seite 345 dann noch ca. 30 Seiten „Weitere Interventionen“ präsentiert werden.

Die umfassenden und sorgfältig editierten Personen- und Sachregister lassen den Gedanken aufkommen, „Spiel-Räume“ könne nicht nur als Lehrbuch seinen Dienst tun, sondern auch als praxisorientiertes Handbuch, welches man berufsbegleitend häufig zu Rate zieht. Wovon könnte man mehr angetan sein? Von der Vielfalt, von der Kreativität und „Spiel“freude des Autors oder von der stringenten, methodisch nachvollziehbaren Darstellung? Es ist schlicht „alles“, es ist die kurzweilige Geschichte von fast allem, die überzeugt. Glücklicher weise von „fast“ allem. Denn noch etwas anderes trägt zu dem guten Gesamteindruck bei: Der eine oder andere wird nicht mit allen Begründungen und Methoden übereinstimmen, aber alles ist wegen seiner guten theoretischen Fundierung so dargestellt, dass sich hieraus weiterführende Diskussionen in Theorie und Praxis ergeben können – das Buch also zur inhaltlichen Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendlichentherapie beitragen könnte.

Neulich, nach der abendlichen Lektüre eines Kapitels aus dem besprochenen Buch, trat ein Mädchen an mein Bett und behauptete die Märchenfee zu sein. Und sie fragte mich, wenn ich drei Wünsche hätte, welche Bücher ich gerne auf die Halbinsel Wigry (zu Bernhard Trenkles nächster Sommer-Tagung) mitnehmen würde. Spontan sagte ich „Spiel-Räume“. Nach einigem Nachdenken meinte ich, das zweite Buch sei noch nicht geschrieben und zum dritten Buch müsse ich erst noch meinen Ko-Autor Siegfried Mrochen befragen.

 

Karl L. Holtz

 
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